Laudatio auf die Edition Orient

Von Heinrich von Berenberg, Mitglied der Jury des Berliner Verlagspreises 2020

Ein sympathischeres, notwendigeres Programm wie das der Edition Orient kann man sich in diesen Zeiten gar nicht vorstellen. Dieser kleine Verlag wurde 1980 bereits gegründet. Stephan Trudewind, der gegenwärtige Verleger, hat ihn in die modernen Zeiten geführt, in denen das Miteinander von Menschen aus verschiedenen sprachlichen, ethnischen und religiösen Kulturen in Deutschland eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber wie wir alle wissen und jeden Tag sehen können, immer noch nicht ist. Deshalb müssen Verlage wie die Edition Orient gefördert werden, und deshalb bekommt dieser Verlag auch den Berliner Verlagspreis.

Es ist gar nicht so leicht, das Universum zu durchdringen, das dieser Verlag über die Jahre geschaffen hat. Der große gemeinsame Nenner aller dieser Bücher ist die gegenseitige Durchdringung der sogenannten Fremdsprachen, vor allem der Außereuropäischen. Hier, in diesen Büchern, die ja vor allem für Kinder gemacht sind, kann man nachlesen und sehen, wie aus dem scheinbar selbstverständlichen Begriff »Fremdsprache« das Wortteil »Fremd« mit leichter Hand herausoperiert werden kann. Gegenseitige sprachliche und kulturelle Durchdringung – das scheint mir eine der schönen Absichten hinter dem Programm dieses Verlags zu sein.

Eine Sprache wie das Arabische, in Wort und Schrift für Europäer immer noch ein undurchdringliches schriftliches, sprachliches und akustisches Rätsel – hier wird es, in den zahlreichen Arabisch-deutschen Kinderbüchern, die in der Edition Orient erscheinen, graphisch und mit wunderbaren Illustrationen aufgeklärt, aufgewärmt und zu etwas, das man, selbst wenn man keine Ahnung davon hat, anfängt, vorsichtig zu durchdringen. Viele dieser Bücher liest man von rechts nach links, nicht nur, weil das Arabische nun mal so läuft, sondern auch, das ist die deutlich erkennbare und ganz und gar spielerische Absicht, weil es Spaß macht und erhellend ist, diese Umkehrung auch für europäische Sichtgewohnheiten nachzuvollziehen und nachzulesen.

Ich weiß nicht, wie Kinder auf die Bücher von z.B. Farideh Chalatbarie, Chitra Soundar und Kanika Nair (um nur einige wenige aus den neueren Programmen zu nehmen) reagieren. Als Vater zweier Kinder und die langjährige Lektüre von deutschen und englischen Kinderbüchern gewohnt, habe ich mir beim Lesen und Anschauen der Kinderbücher aus dem Arabischen, Persischen, dem Tamilischen, Georgischen etc. jedenfalls gedacht, dass Kinder hier in Deutschland gar nicht besser an die beginnende und immer stärker in das Alltagsleben gerade dieser Kinder eingreifende Gegenwart anderer Sprachen gewöhnt werden können als mit diesen wunderbaren Büchern.

Zu den zahllosen westlichen Vorurteilen gegenüber dem Arabischen zählt in Europa immer noch die herablassende Feststellung, dass das Arabische seine beste Zeit vor vielen Jahrhunderten gehabt habe und danach bis heute in einen lethargischen, islamisch und despotisch diktierten Tiefschlaf gefallen sei. Der Schwachsinn solcher Behauptungen hat sich inzwischen herumgesprochen. Ich erinnere mich noch gut an die verblüffte Empörung von Teilen des Feuilletons, als der Ägypter Nagib Mahfuz 1988 den Nobelpreis für Literatur erhielt, übrigens einer der wichtigsten Autoren im Erwachsenenprogramm des Verlags mit seinen arabisch/deutschen Ausgaben. Wie sensibel hingegen, und wie modern längst auf Arabisch gedacht, geschrieben, gezeichnet und gemalt wird, lässt sich nirgends im deutschen Sprachraum in einer solch wertvollen Vielfalt und Reichhaltigkeit in einem Verlagsprogramm besichtigen wie im Programm der Edition Orient. Es ist geradezu ein Manifest gegen solche ausgrenzenden Vorurteile. Man findet hier Illustratoren und Autoren, die nicht aus der märchenhaften Vergangenheit, sondern mitten aus der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart des Nahen Ostens ihre Motive ziehen.

Es wäre verkürzt, wollte man diesen Verlag auf die Spielwiese des Arabischen reduzieren. Es sind hier gerade in den letzten Jahren Kinderbücher auf Deutsch/Spanisch, Portugiesisch/Deutsch, Kurdisch/Deutsch, Türkisch/Deutsch, Georgisch/Deutsch erschienen. Und es werden mitunter mit leichter Hand und auf wenigen Seiten, mithilfe schön und auch raffiniert gestalteter und aufbereiteter Illustrationen, große Themen der Gegenwart beackert. »Migrar« (auswandern) heißt ein kleines Buch der Mexikaner Javier Martinez Pedro und José Manuel Mateo über die Menschen, die in Zentralamerika vor Armut und Gewalt und auf der Suche nach Arbeit und einem menschenwürdigen Leben nach Norden fliehen. Ein Kinderbuch wohlgemerkt, und was für eines! »Für Kinder ab 4 Jahren ein Wimmelbuch – für Jugendliche ein sozialkritisches Buch über Migration in Mittelamerika – für Erwachsene ein bibliophiles Kunstwerk«, so wird es auf der Website beschrieben. Mithilfe behutsamer Texte, einer schönen, leporelloartigen Gestaltung und schönen Illustrationen wurde daraus ein »All Age Kunstwerk«, wie es die Neue Zürcher Zeitung bewundernd nennt. Es ist nicht das einzige, das mit mehreren Auszeichnungen geschmückt worden ist. Der Verlag hat mit seinen Büchern bereits zahlreiche, übrigens auch internationale Preise erworben. Das liegt vor allem auch an den großartigen Illustratoren, die, genauso wie die Autoren, aus fernen Ländern kommen und denen hier in der Edition Orient eine Bühne geboten wird, auf der sie ihre Kunst vor einem verwöhnten deutschen Publikum vorstellen können.

Wo Verleger Stephan Trudewind sie aufstöbert, habe ich mich gefragt. Wie findet man Übersetzer aus dem Tamilischen oder dem Malayanischen, also dem Indisch, das im Bundesstaat Kerala gesprochen wird? Wie gelangt man an Autorinnen wie Anushka Ravishankar oder Illustratorinnen wie die die Kommunikationsdesignerin Kanyika Kini? Er wird es wissen. Jedenfalls kann man auch hier ein offenbar über die Jahre und Jahrzehnte gereiftes kulturelles Netzwerk besichtigen, das offenbar ganz hervorragend funktioniert. Welches die die Absichten, die Ideen, die Vorlieben, Leidenschaften hinter diesem einmaligen Verlagsprogramm sind, und wie die Praxis aussieht, lässt sich übrigens in einer Doku-Serie ansehen, die sich ungewöhnlichen beruflichen Lebensläufen widmet und wo der Verleger berichtet, was es mit diesem Verlag auf sich hat. Das Anschauen lohnt sich: https://theartofpeople.de/trudewind/

Den Berliner Verlagspreis bekommt die Edition Orient auch, weil der Verlag etwas fortführt, was schon die Gründer beabsichtigten, 1980, zu einer Zeit, als wie erwähnt das Arabische in den Feuilletons als Literatursprache nicht ernst genommen wurde. Neben den Romanen und Erzählungen des Nobelpreisträgers Nagib Mahfuz erscheinen in zweisprachigen Ausgaben auch die Gedichte des Syrers Fouad El-Auwad, die Erzählungen des Irakers Abdulrahman Majid al-Rubaie, Bücher von Taha Hussein und von Adonis. Auch die Erinnerungen an die Kindheit auf dem Land in Ägypten, die Sayyid Qutb in den vierziger Jahren aufschrieb, zwanzig Jahre bevor er als Islamist und Anführer der Muslimbrüder zu einer Reizfigur nicht nur des Westens wurde, hat sich dieser Verlag getraut, weiter im Programm zu behalten.

Ich beglückwünsche nicht nur Stephan Trudewind zu diesem hoch verdienten und längst fälligen Verlagspreis, sondern auch die gewiß zahlreichen Mitarbeiterinnen, Zuträger und guten Geister, die für das Funktionieren und die Zukunft dieses gesellschaftlich unverzichtbaren Kulturgebildes namens Edition Orient unverzichtbar sein dürften.

Die Laudatio wurde am 24. November 2020 live auf dem digitalen Empfang im Anschluss an die Verleihung des Berliner Verlagspreises vorgetragen. Foto der Preisträger: Tim Holland