Laudatio auf den Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
von Britta Jürgs, Mitglied der Jury des Berliner Verlagspreises 2021
»Mit List, nicht mit Kraft« heißt der Leitgedanke des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis, der nicht nur auf der Verlags-Website, sondern – auf Lateinisch – in allen Büchern zu finden ist: Die Worte »Astu non vi« schweben über einem kleinen Frosch, der einen großen Hecht reitet, umkreist vom Schriftzug des für sich sprechenden Verlagsnamens. Der Frosch im Verlagssignet überlistet den Hecht, ihn über den See zu bringen, statt von ihm gefressen zu werden. Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis ist wahrlich solch ein kluger Frosch, der die großen Hechte im Büchermeer an List, Ausgrabungsgeschick und Liebe zur Buchkunst bei weitem überragt.
Die wiederentdeckten Werke aus der Vergangenheit, ob fiktional oder nicht, sollen die Gegenwart beleuchten – und das gelingt immer wieder auf erstaunliche Art und Weise.
Im ersten Programm des Verlags im Frühjahr 2017 erschien beispielsweise »Reise in ein neues Leben« von Gottlieb Mittelberger, der Reisebericht eines deutschen Flüchtlings, der sich 1854 aus Schwaben nach Amerika begab, sowie ein früher Text über die »Lügenpresse«, Richard Adams Lockes für die New York Sun verfasste Artikelserie über »Sir John Herschel’s höchst merkwürdige astronomische Entdeckungen, den Mond und seine Bewohner betreffend« von 1835.
Auch ein Blick auf die Teller kann uns die Geschichte näherbringen, wie dies in den Speisekarten geschieht, die Tobias Roth und Moritz Rauchhaus in »Wohl bekam’s! In hundert Menüs durch die Weltgeschichte« zusammengestellt und kommentiert haben.
Es ist eins dieser Bücher zum Flanieren, zum Blättern und Eintauchen, zum Festlesen und Weiterschauen – wie beispielsweise auch der Band »Da war ich eigentlich noch nie«. Darin können wir eine »Gepäckliste für Fußreisende« finden, Georg Christoph Lichtenbergs Plädoyer für ein großes öffentliches Seebad, Hinweise für einen Familienausflug um 1900, Johanna Schopenhauers Bemerkungen über »Reisende Engländer im Rheinland«, aber auch Texte aus einem Urlaubsfotoratgeber der DDR, eine Liste der Orte, die durch den Verkehrsfunk bekannt sind oder die beliebtesten Kleinstädte Deutschlands im Instagram- Ranking. Eine wahre »Wunderkammer des Reisens in Deutschland«, gesammelt und aufs Feinste zusammengestellt von Herausgeber Thomas Böhm.
Und auch sonst ist das Verlagsprogramm eine Wunderkammer, in der sich »eine ungemein eigensinnige Auswahl an Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch« neben den literarischen Skizzen der kanadischen Autorin Emily Carr finden, Flug- und Denkschriften neben Wiederentdeckungen wie »Tramhalte Beethovenstraat« von Grete Weil oder Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefen“.
2016 wurde der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis als Gemeinschaftsprojekt von Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth gegründet, die sich als Kuratoren bezeichnen und nicht als Verleger und die um sich ein Netzwerk an stillen Teilhaberinnen und Teilhabern, Unterstützerinnen und Unterstützern geschart haben.
Nicht nur die Auswahl ihrer Titel ist eine ganz besondere, auch die Gestaltung, die schon gleich zu Beginn mehrfach von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet wurde. Die Bücher haben allesamt einen Kopffarbschnitt, dazu passendes farbiges Vorsatzpapier, Prägung und meist auch Lesebändchen.
Die Verlagsräume sind seit neuestem an einigen Tagen der Woche zugleich auch eine Art Showroom mit Büchern unabhängiger Verlage – eine Buchhandlung, in der nur das gekauft werden kann, was ausgestellt ist, ein Ort der Kommunikation, in dem, sobald das wieder möglich ist, auch Veranstaltungen stattfinden sollen. Hinter »Viel Gluck mit die Bücher« verbirgt sich nicht nur eine schöne Geschichte, die einiges von dem Witz offenbart, der auch das Programm des Verlages kennzeichnet, sondern auch eine verlegerische Wunderkammer.
Wir zeichnen den Verlag Das kulturelle Gedächtnis für seine die Gegenwart bereichernden Texte aus der Vergangenheit, die schön gestalteten bibliophilen Ausgaben und seine wunderbaren Ausgrabungen mit dem Berliner Verlagspreis 2021 aus und freuen uns auf weitere Entdeckungen aus der Wunderkammer des unabhängigen Verlegens!
Herzlichen Glückwunsch!