Laudatio auf den Elfenbein Verlag
Von Christian Ruzicska, Mitglied der Jury des Berliner Verlagspreises 2022
Nicht jeder Anfang beginnt mit dem Verkauf eines Autos, und nicht jede Reise nach Tschechien hat ihren Grund darin, eine günstige Druckerei finden zu wollen. Auch wenn es den Anschein haben könnte, damit sei unsere Gegenwart gemeint, befinden wir uns doch im Jahr 1996 und sind unterwegs mit zwei jungen, literaturbegeisterten Studenten nach Klatovy, wo die beiden Literaturwissenschaftler, die ihre ersten publizistischen Erfahrungen mit der Herausgabe der Heidelberger Literaturzeitschrift metamorphosen gemacht haben, sich als kühn genug erweisen, den Gedichtband »Unterhand« von Andreas Holschuh drucken zu lassen, in dem wir die heute dringlicher denn je klingenden Verse vorfinden:
selbst der weltuntergang zieht sich hin
spätmodern und infantil
es ist leicht hier sachwalter
oder buchhalter der apokalypse zu sein
man richtet sich ein allmähliche hölle
sonne ein wenig beim schließen der lider
alles in allem die verzweiflung spottet
jeder beschreibung …
Dass sich diese Verzweiflung, die der damaligen Aids-Epidemie geschuldet war, heute wie ein Mahnruf aus der Vergangenheit an unsere von allen Seiten bedrohte Lebenswirklichkeit liest, stimmt nachdenklich und verweist auf die Strahlkraft dieser Lyrik, die selbst nach mehr als fünfundzwanzig Jahren bis in unsere Zeit hinein das ausleuchtet, wovor wir – infantil –unsere Augen nicht mehr verschließen dürfen. Und ebenso strahlen, und mit aller Deutlichkeit, die beiden folgenden phänomenalen Zeilen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert:
denn in dieser Welt der Täuschung
spricht die Wahrheit der, der lügt
des portugiesischen Dichters António Botto, über den Fernando Pessoa äußerte: Er besingt das Leben, doch so brüchig, dass er es mit den gleichen Worten, die er singt, verneint; was er in ihm an Schönem fühlt, ist das, was durch es verloren geht: seine flüchtige und nichtige Zwecklosigkeit. Für ihn fällt die Schönheit des Regens zugleich auf das Feld des Gerechten wie auf das des Ungerechten.
Damit sind grundlegende Begriffe angesprochen, die in den aktuellen Diskursen von anderen Themen allzu oft übertönt werden und drohen, aus dem Augenmerk zu fallen: Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Drei essenzielle Begriffe, die die fundamentalen und schwer zu fassenden Säulen eines Kulturverständnisses ausmachen, um die in aller Literatur, die ihre eigene Zeit überdauert hat, gerungen wurde, und um die es stets zu ringen gilt, heute mehr denn je – mit jedem öffentlichen Wort, gesprochen oder gedruckt. Es ist hier kein Raum, auf das komplizierte Verhältnis von Wahrheit und Schönheit einzugehen, aber ich möchte doch kurz sagen: Unsere Welt könnte sehr schön sein – und zugleich fragen: Aber verhalten wir uns wahr genug zu ihren Bedingungen, um dieser Hoffnung auf Schönheit gerecht zu werden?
In den Anfängen des Elfenbein Verlags leuchten die drei genannten Säulenbegriffe bereits kraftvoll auf und bilden den Ausgangspunkt der Publikationsgeschichte eines Verlages, der seinem eigenen Maßstab ästhetischer und diskursiver Verantwortung stets treu geblieben ist und eine enorm wichtige Arbeit geleistet hat: Mit einem klaren Blick für die internationale Gegenwartsliteratur, mit aussagekräftigen Wiederentdeckungen von Autoren der literarischen Moderne, mit Werkausgaben von Luis de Camoes, Klabund, Arthur Machen und dem grandiosen Anthony Powell, oder mit den gesammelten Werken von Pierre de Ronsard, Anton Schnack und Marie Luise Weissmann, deren Titel Ich wünschte zu sein, was mich entflammt, wie ein Motto für die gesamte Verlagsgeschichte gelten kann: Lieber Ingo Držečnik, Ihnen und all Ihren Mitwirkenden ist es gelungen, zu realisieren, was Euch entflammt: ein Literaturverlag, der seit über fünfundzwanzig Jahren sorgfältig edierte und stets lesenswerte Bücher publiziert! Ich gratuliere von Herzen zum Berliner Verlagspreis 2022!