← zurück zur Startseite

Claudia Geißler (Berliner Zeitung) trug die Laudatio auf den Verlag Ciconia Ciconia vor © Schirin Moaiyeri

Laudatio auf den Verlag Ciconia Ciconia

Von Cornelia Geißler, Mitglied der Jury des Berliner Verlagspreis 2022

Nicht jede Reise ist geplant. Auch das 21. Jahrhundert zeigt, dass viele Menschen ihr Zuhause verlassen müssen. Der Verlust an geistiger Freiheit, die Beschränkung der öffentlichen Meinung, der Presse, des Verlagswesens zwingen sie fort. Krieg und Zerstörung, Hunger und wirtschaftliche Misere treiben zu bewussten, oft notgedrungenen Entscheidungen. Wie einfach haben es da die Weißstörche, die sowieso ihrer Natur folgen, wenn sie dem Nest und der vertrauten Froschwiese entsteigen, um in anderen Gefilden zu klappern.

Dass der Kulturwechsel und Heimatverlust auch Sprachwechsel und Sprachverlust bedeuten, ist uns, die wir uns glücklich in der Welt der Bücher eingerichtet haben, schmerzlich bewusst. Der Weißstorch, lateinisch: Ciconia Ciconia, gab einem Berliner Verlag den Namen, der im Sommer 2015 gegründet wurde, nicht aus dem Blauen heraus, nicht allein aus dem Sinn für das Gute und Schöne, was man hier durchaus in einiger Pracht entdecken kann, sondern zuerst als Reaktion auf die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim.

Im August erschien in dem Verlag das zweisprachige Kriegstagebuch »Der Himmel über Kyiv« des ukrainischen Malers Tibery Szilvashi. Wer hätte bei Einführung dieser schönen Auszeichnung vor ein paar Jahren gedacht, dass die Preisverleihung einmal so unmittelbar an aktuelle politische Vorgänge geknüpft sein würde, an einen Krieg, der uns in Atem hält?

Und doch ist nicht Solidarität oder Parteinahme der Grund, dass wir nun den Ciconia Ciconia Verlag mit dem Berliner Verlagspreis ehren wollen, gegründet von dem Autor und Grafikdesigner Dmitri Dergatchev und dem Kunst- und Medienhistoriker Wladimir Velminski, der heute auch der Geschäftsführer ist.

Für Ciconia Ciconia sprechen ein sichtlich durchdachtes Programm voller Überraschungen, das manch vertrauten Namen wie Viktor Jerofejew, Dmitri Prigow, Sascha Sokolow und Vladimir Sorokin enthält, aber doch vor allem Bücher von hierzulande noch nicht etablierten Autorinnen und Autoren sowie Künstlern hat. Sie leben und lebten in Russland, etwa in Moskau, St. Petersburg oder Kostroma, in Georgien, aber viele von ihnen inzwischen in Berlin oder Paris.

Die Bücher stehen für eine reiche und eigensinnige, oft widerständige Kultur. Satire und Persiflagen auf die gegenwärtige russische Realität finden sich da in Stilistik und Optik. Daneben hat das Erbe der Avantgarde der 20er- und 30er-Jahre seinen Platz, hervorgeholt aus den Archiven, zu Staunen verleitend. Politisch wirkt das Programm, weil es der offiziellen Linie der Russland-Verherrlichung zuwiderläuft, ästhetisch ruft es danach, die Freiheit der Kunst zu feiern, mal minimalistisch, mal provokativ. Aus buchgestalterischer Sicht ist die Vielfalt der Handschriften, die individuelle Sorgfalt für jedes einzelne Buch, das meist in limitierter Auflage erscheint, für Hand und Auge geradezu berauschend. Sogar der Katalog macht richtig was her.

»Der Verlag möchte vor allem osteuropäischen Künstlern und Schriftstellern sowie ihren Narrativen die Möglichkeit zum Erscheinen geben«, heißt es auf der Homepage. Das ist ein wichtiges Anliegen, was denen hilft, die im Land ihrer Herkunft keine Publikationsmöglichkeiten mehr haben. Nicht wenige Bücher erscheinen auch zweisprachig und könnten so die verlorenen Leser doch noch erreichen. Derzeit wächst die Nachfrage von Autorinnen und Autoren aus der Ukraine, Belarus, Georgien und auch aus Russland, hier zu publizieren, teilte der Verleger in der Bewerbung um den Verlagspreis mit.

In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2020 wird der Weißstorch auf der Vorwarnliste geführt. Nach Jahren des Rückgangs der Population gibt es nach Untersuchungen des NABU vor allem in den östlichen Bundesländern wieder einen Anstieg. Der aber sei weniger aus dem eigenen Bestand begründet, sondern hauptsächlich ein Resultat von Zuwanderung aus Osteuropa. Für die Buchwelt können wir sagen, dass die Zuwanderung in Gestalt von Ciconia Ciconia erfreulich, ja befruchtend ist. Und wir hoffen, die erstaunlichen Bücher dieses Verlags mit der Preisverleihung noch mehr in den Buchhandlungen und der kritischen Öffentlichkeit anzusiedeln.