Laudatio auf den avant-verlag
Von Nina Wehner und Olivia Wenzel, Mitglieder der Jury des Berliner Verlagspreises 2022
Die Jury des Berliner Verlagspreises 2022 hat sich entschieden, den diesjährigen Hauptpreis des Verlagspreises an den avant-verlag zu verleihen. Seit der Gründung durch Johann Ulrich im Jahr 2001 steht der avant-verlag für ein anspruchsvolles und vielfältiges Programm im deutschsprachigen Comic.
Wie kaum einem anderen Verlag ist es dem avant verlag in den letzten zwanzig Jahren gelungen, das lange als abseitig und nicht dem Literaturbetrieb zugehörig geltende Genre der Comics und der Graphic Novels auf ein Niveau zu bringen, das nicht erst seit heute ohne weiteres verschiedenste Literatur- und Verlagspreise zugesprochen bekommt.
So zuletzt die Autorin und Zeichnerin Bianca Schaalburg, die erst vor einigen Wochen den deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Buch »Der Duft der Kiefern« erhielt.
An dieser Stelle soll nun kurz eine nicht unerhebliche Frage gestellt, aber nicht unbedingt beantwortet werden:
Was ist Comic und was ist Graphic Novel?
Auf der Verlagsseite des avant-verlags lesen wir folgendes:
»Seit 2001 publiziert der avant-verlag Comics und Graphic Novels für Liebhaber*innen moderne Grafik, Kunst und Literatur. Öfter, als das Vorurteil es will, beschäftigen sich Comics engagiert mit dem Hier und Jetzt, mit den politischen und sozialen Zerwürfnissen der Welt, in der wir leben.«
Hier wird klar, dass die Macher*innen der Bücher, die ihre Geschichten mittels Bildern und Zeichnungen erzählen, die Grenzen zwischen den beiden Begrifflichkeiten gar nicht mehr klar ziehen wollen.
Vielleicht lässt sich es heute damit leben, wenn wir sagen, dass die Graphic Novel ein Untergenre, oder, um es positiver auszudrücken, eine Weiterentwicklung des literarischen Genres Comic ist und somit ein Verlag, der sich auf das Veröffentlichen gezeichneter Geschichten fokussiert, sich nicht notwendigerweise auf eine der beiden Bezeichnungen festlegen muss.
Das wesentliche Merkmal ist doch, dass die Art des Erzählens sich des gleichen Mittels bedient, nämlich des Zeichens, mitunter auch des Malens, der Collage und anderen darstellenden Techniken. Der literarische Inhalt wird uns anhand von Bildern vermittelt, in der Graphic Novel vereint sich das Bild mit dem Text, ergänzt sich und macht teilweise den Text, das Erzählen mit sprachlichen Mitteln gänzlich überflüssig. Die Bilder werden zur Sprache, die keiner Schriftsprache mehr bedarf. Das schafft diese literarische Gattung.
Und sicher kennen die meisten Menschen, die sich jemals in einer Graphic Novel verloren haben dieses Gefühl, wie aus einem luziden Zustand zu erwachen. Man blickt auf, am Ende der Geschichte angelangt und trägt dann stunden-, manchmal tagelang die Bilder mit sich herum. Das ist die Schnittstelle zur klassischen Literatur, zur Prosa. Genau wie ein gut geschriebener Roman, schaffen es diese gezeichneten Geschichten und Romane es, den Leser, die Leserin vollkommen zu vereinnahmen. Und vielleicht schaffen es die gezeichneten Geschichten sogar noch ein wenig mehr. Die visuelle Erfahrung macht das Erzählte oft noch eindrücklicher und fassbarer.
Der avant-verlag steht schon immer für ein vielfältiges und besonders ausgewähltes Programm nicht nur deutscher, sondern auch internationaler Autor*innen. Schaut man sich die Verlagsveröffentlichungen der letzten Jahre an, ist eines unverkennbar: die Geschichten, die hier verlegt werden, wollen mehr als nur unterhalten. Die Inhalte haben eine gesellschaftliche Relevanz, nehmen Bezug auf historisch-politische Themen, sind sozialkritisch, manchmal laut und aufrüttelnd, manchmal still und eindrücklich und sehr persönlich. Es geht diesen Geschichten nicht vorrangig ums Gefallen, vielmehr wollen sie auf aktuelle Themen aufmerksam machen, notfalls auch mit drastischen Bildern und erschütternden Darstellungen. Zu finden sind aber auch anrührende und bewegende Geschichten, die die Erinnerung an vergangenes Unrecht und vergessene Schicksale aufleben lassen.
Neben bereits etablierten Autor*innen verlegt der avant-verlag auch immer Newcomer*innen und hat mit verlegerischem Mut schon einigen Autor*innen mit ihren Erstlingswerken einen Platz in der Welt geschaffen.
Gleichzeitig ist es dem Verlag unverkennbar ein Anliegen, die Geschichte des Comics und der Graphic Novels als Teil der eigenen Geschichte zugänglich zu machen.
So finden sich im Programm Titel wie: »Eternauta« der argentinischen Kultautoren Héctor G. Oesterheld und Francisco Solano López oder die preisgekrönte Monographie von Alexander Braun: »Will Eisner – Graphic Novel Godfather«. Bei Letzterem spricht der Titel wohl für sich, keine Laudatio an einen Comic-Verlag, in dem nicht mindestens einmal der Name Will Eisner auftaucht… aber das ist sehr sicher auch im Sinne des Verlags, der sich mit dem Publizieren ebensolcher Titel in dieser verlegerischen Tradition sieht, die, im Vergleich zum Verlegen klassischer Literatur, immer noch eine recht junge, erst seit einigen Jahrzehnten, vor allem in Europa etablierte ist.
Aber, und auch das ist eine verlegerische Leistung die hier heute gewürdigt werden soll, der avant-verlag schafft es mühelos, ebenso zeitgenössische Geschichten zu veröffentlichen und hat besonders bemerkenswerterweise eine nennenswerte Anzahl weiblicher Autorinnen im Programm.
So hat die schwedische Feministin, Künsterlin und Autorin Liv Strömquist hier ihre verlegerische deutsche Heimat gefunden. Die österreichische, in Berlin lebende, Autorin Ulli Lust, mir ihrer vielbeachteten autobiografische Graphic Novel »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« oder auch aktuell die Russin Olga Lawrentjewa, die anhand der Geschichte ihrer Großmutter ein Frauenleben in Zeiten des stalinistischen Terrors erzählt, zählen ebenso zu den Veröffentlichungen wie die Autorin Birgit Weyhe, die sich in ihrem Buch »Rudegirl« mit der gegenwärtigen Situation der USA, dem Thema kulturelle Aneignung und der Frage, wie sich Geschichten von PoCs heute erzählen lassen auseinandersetzt. Sie erzählt die Geschichte von Priscilla Layne und lässt diese wiederum ihre Geschichte kommentieren. Birgit Weyhe wurde dafür 2022 als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin in Erlangen mit dem Max und Moritz-Preis ausgezeichnet.
Aus dem aktuellen Programm sei hier verwiesen auf die Comicreportage »Hinterhof« als ein Gemeinschaftsprojekt der Autorin Anna Rakhmanko und dem Zeichner Mikkel Sommer. Ein graphisches Interview-Journal, in dem die Gespräche mit der Dänin Dasa Hink, die sich gegen ein konventionelles und bürgerliches Leben entscheidet und als Domina in Berlin lebt und arbeitet, festgehalten sind.
Auch und gerade in solchen Titel findet sich der verlegerische Mut und die Lust am Besonderen und Abseitigen wieder. Der avant-verlag geht seinen Weg, unabhängig von Trends und doch immer auch ganz nah an den aktuellen Themen und Debatten.
Der Berliner avant-verlag wird mit seinen Veröffentlichungen und seinem Programm auch international seit vielen Jahren für das Besondere, Anspruchsvolle, Künstlerische und Eigene in der Welt der Graphic Novels und Comics wahrgenommen und geschätzt.
Persönliche und politische Geschichten, historische und gegenwärtige Geschichten, Künstler*innen mit eigener Bildersprache, der Mut und die Freude an Neuem, die erkennbare Lust an der Innovation und dem Kreativen, die Auswahl der Titel, die langjährige Zusammenarbeit mit Autorinnen, sind für uns augenfällige Merkmale der auszeichnungswürdigen verlegerischen Arbeit dieses Verlags.
Besonders in widrigen Zeiten wie den heutigen – wir erleben fassungslos den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, den Kampf der iranischen Bevölkerung gegen ein allmächtig und unmenschlich erscheinendes Regime, den Hunger und die Nöte der sich täglich verschlimmernden Zustände in vielen Ländern der Welt, den Kampf um die Deutungshoheit der gesprochenen und geschriebenen Wahrheiten im Internet und den immer weiter auf uns einwirkenden Fluss, erschreckender Nachrichten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – ist es vielleicht wichtiger denn je, unabhängigen und frei arbeitenden Verlagen Unterstützung jedweder Art zukommen zu lassen. Denn auch alltägliche Probleme wie nicht mehr funktionierende Lieferketten und Ressourcenmangel erschweren es, dieser Arbeit ungehindert und selbstverständlich nachgehen zu können. Wie wichtig und unersetzlich diese Arbeit ist können wir zum derzeitigen Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht ermessen.
Lassen Sie uns versuchen, unsere freiheitlichen Werte mit allem, was uns zur Verfügung steht zu verteidigen. Dazu gehört vor allem und in erster Linie die Freiheit, sagen und schreiben zu können, was wir für notwendig halten, und die Möglichkeit, offen und ohne Angst die eigene Meinung äußern zu können. Aber auch die Fähigkeit, andere Meinungen auszuhalten und in einen Austausch und in konstruktive Debatten mit dem Gegenüber zu treten.
In der stillen Hoffnung, diese Welt eine bessere, friedlichere und lebenswertere Welt für alle Menschen zu machen – auch dafür soll dieser Preis in diesem Jahr stehen!
Wir, die Jury des diesjährigen Berliner Verlagspreises, sind der Meinung, dass die innovative, mutige und kreative Arbeit des avant-verlags gewürdigt werden soll und haben uns deshalb dazu entschlossen, den diesjährigen Hauptpreis an den avant-verlag zu verleihen und hoffen so, mit der Förderung und der Anerkennung einen kleinen Teil dazu beitragen zu können, dass diese Arbeit weiterhin möglich ist.
Wir gratulieren dem Verleger Johann Ulrich und dem gesamten Team des avant-verlags sehr herzlich und freuen uns auf viele weitere, spannende Veröffentlichungen.