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Joe Chialo (Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt), Klaus Bittermann (Edition Tiamat) und Franziska Giffey (Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe) © Schirin Moaiyeri

Laudatio auf die Edition Tiamat

Von Gesa Ufer, Mitglied der Jury des Berliner Verlagspreises 2023

»Ohne Dissens, wenn alle sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, wird es sehr schnell öde«. Wer hat’s gesagt?

Wir freuen uns sehr, heute einen Verlag mit dem Großen Berliner Verlagspreis auszeichnen zu dürfen, der seit fast einem halben Jahrhundert dabei hilft, dass es nicht öde wird, der Debatten und das kulturelle Leben mitprägt, obwohl er doch streng genommen das Werk nur eines Einzelnen ist: die Edition Tiamat des Verlegers, Kolumnisten und Autors Klaus Bittermann.

Beginnen wir mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte: Als Kind – so hat er es selbst mal in einem Interview geschildert – war Klaus Bittermann Ministrant im fränkischen Kulmbach an der Seite von Thomas Gottschalk. »Zum Glück«, ich zitiere wiederum den Preisträger selbst, hätten ihn dann aber früh Mitschüler »vom rechten Weg abgebracht« und ihn mit den Schriften von Marx und Engels vertraut gemacht. Eine Begegnung mit Folgen: Nach einem Studium der Philosophie, Soziologie und Politologie gründet Bittermann 1979 im Alter von 27 Jahren in Nürnberg einen Verlag mit Gleichgesinnten. Die Gruppe trennt sich bald darauf wieder, aber Bittermann macht allein weiter. Seit 1981 ist die Edition Tiamat nun in einer Erdgeschosswohnung in Berlin-Kreuzberg beheimatet. Mit Klaus Bittermann als Verleger, Lektor, Sachbearbeiter und Presseagent in Personalunion.
Stehen anfangs noch wiederentdeckte Schriften von Anarchisten, Dadaisten, Surrealisten und den französischen Situationisten im Fokus, verlagert sich der Schwerpunkt in den 80er Jahren mehr und mehr auf aktuelle Debatten. Scharfe, brillant geschriebene Texte erscheinen, die in ihrer Mischung auf den ersten Blick verwundern könnten, weil sie das klassische Links-Mitte-Rechts-Schema unterwandern. Zu Klassikern wie Guy Debord, Hannah Arend und Antonio Negri gesellen sich Essays, Sachbücher, Glossen und Satiren von Roger Willemsen, Hunter S. Thompson, Caroline Fourest oder Wiglaf Droste.

So groß die Liebe zu eleganten, klugen und originellen Texten ist, so tief Klaus Bittermanns Abneigung gegen »Schaumsprache« und eine »Gesinnung von der Stange«. Gerade dieser Aspekt macht deutlich, warum die Geschichte der Edition Tiamat über Jahrzehnte eng mit dem Werk des 2018 verstorbenen Soziologen und Gesellschaftskritikers Wolfgang Pohrt verbunden ist. Der Autor hat die verschiedenen linken Bewegungen in Deutschland mit ebenso pointierter wie unversöhnlicher Kritik begleitet und die verdrängten historischen Kontinuitätslinien auch dieses Milieus schonungslos herausgearbeitet. Jeglichen Vereinnahmungsversuchen hat Wolfgang Pohrt sich konsequent entzogen, so wie auch Klaus Bittermann bis heute mit seinem Programm versucht, erwartbare Weltbilder zu umgehen und totalitäre Tendenzen von rechts wie von links zu entlarven.
Der Spaß am unkonventionellen Denken paart sich bei Klaus Bittermann mit grandiosem Sinn für Humor und ungewöhnlichen gestalterischen Ideen: Die gerade fertig gestellte 11-bändige Wolfgang- Pohrt-Werkausgabe zum Beispiel sieht der berühmten blauen Marx-Engels-Gesamtausgabe täuschend ähnlich, und gäbe es einen Preis für die originellsten Buchtitel, hätte die Edition Tiamat längst gewonnen: Ob »Nomade im Speck«, »Sorge Dich nicht, lese!« oder »Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht«: Der Spaß am Subversiven, an der Provokation und dem konstruktiven Spott gehören fest zum Verlagsprogramm, genauso wie profunde Auseinandersetzungen mit erstarkendem Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, wie er gerade in diesen Tagen wieder traurige Aktualität erfährt.
Es sind Verlage wie die Edition Tiamat, die die literarische Landschaft Berlins vielfältig und kostbar machen. Und Verleger wie Klaus Bittermann, die mutige Entscheidungen treffen, die Grenzen verschieben, unbequeme Fragen stellen und die uns immer wieder aufs Neue überraschen und herausfordern. Wir danken Ihnen für Ihre herausragende und unermüdliche Arbeit, lieber Klaus Bittermann, herzlichen Glückwunsch zum Großen Berliner Verlagspreis! Auf die nächsten 50 Jahre Edition Tiamat!